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DIE LAST MIT DEN UNBEGRENZTEN MÖGLICHKEITEN //

COUCHSTORIES //

Wir sehen es als eine Errungenschaft an, größtmögliche Entscheidungsfreiheiten zu haben. Damit sind wir im Gegensatz zu früheren beruflichen wie privaten Reglements weniger von Begrenzungen als von Optionen umgeben. Dies bringt allerdings den Druck mit sich, ständig Entscheidungen treffen zu müssen, täglich von seiner Wahlfreiheit Gebrauch machen zu sollen.

Wir „freien Menschen“ leben daher mit dem Diktat der Weiterentwicklung, Selbstverwirklichung und Lebensoptimierung. Mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten „im Hinterkopf“ sind wir zu einer permanenten Sehnsucht verdammt und mit der ständigen Sorge belastet, etwas zu verpassen. Viele sind inzwischen von der fortwährenden Selbstoptimierung und von dem Nichts-Verpassen-und-alle-Chancen-nutzen-Wollen erschöpft.

Ein gelungenes, erfülltes Leben verlangt jedoch nach klaren Linien und nach Verzicht auf Optionen. Und nach einer Antwort auf die Frage „Was will ich wirklich?“

Worum es dabei geht ist vielen zunächst nicht klar. Häufig geht es zuerst um feste Vorstellungen, so oder so sein zu sollen, dies und das zu brauchen. Durch dieses „Sollen“ und „Brauchen“ geraten Menschen in ein Hamsterrad und merken nicht, dass sie zahllosen Dingen nachlaufen, die sie nicht wirklich glücklich werden lassen. Erst wenn das verstanden worden ist, kommt die Frage: Was will ich eigentlich?

Die Gefahr auf diese Frage keine Antwort zu finden, ist in den letzen Jahren – vielleicht sogar Jahrzehnten – immer größer geworden, weil es vermeintlich immer mehr Optionen gibt, wir uns immer leichter vergleichen können und nicht zuletzt dadurch, dass Konsumgüter immer leichter zugänglich geworden sind und man sich immer stärker auch an Materiellem gemessen fühlt. Die Werbung hat es treffend ausgedrückt: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“. Solche Attribute zu besitzen macht ja auch vordergründig das Gefühl, „wer“ zu sein. Doch es gibt auch den Spruch: Ein Wunsch, der sich erfüllt, gebiert augenblicklich Junge. So passiert es, dass man aus diesem Kreislauf nicht mehr so leicht herauskommt. Es wird versucht Ansehen und Selbstwertgefühl dadurch zu steigern, dass man bestimmte Dinge besitzt und einen gewissen Lebensstil pflegt. Entscheidend dabei ist die Gruppe, in der wir leben. Wir sind sehr stark von ihr beeinflusst, und wir befinden uns unweigerlich im Sog ihrer Werteskala. Es ist unheimlich schwer, sich das klar zu machen, geschweige denn da auszusteigen. Die vielen Bildungs-, Fortbildungs- und Karrieremöglichkeiten vermitteln uns das Bild, jeder Mensch könne sich ständig optimieren, wenn er oder sie sich nur anstrengt.

Dieses „Mehr und Besser“ ist natürlich längst in das Ideelle übergegangen. Es gibt auch hier den Wunsch, sich selbst zu optimieren. Das wird uns auch durch die Medien vermittelt. Wie perfektioniere ich mich – und mein Leben? Meinen Körper, die Partnerschaft, den Freundes- und Kollegenkreis, die Karriere, das Bankkonto. Immer in dem Bestreben, das Beste herauszuholen. Das geht bis in die Erziehung hinein, wo der Wunsch entsteht, Kinder nach einem optimierten Erziehungsmodell zu versorgen. Die Kinder werden so in eine Luftblase der perfekten Kindheit oder der perfekten Erziehung gesetzt. Was leider dabei vollkommen übersehen wird ist, dass Kinder auch Langeweile, Muse und auch die Erfahrung brauchen, dass sich nicht alles ihren Wünschen fügt, um ausreichend auf ein eigenständiges Leben vorbereitet zu sein . Junge Menschen haben keine Mentoren mehr und auch Familien haben niemanden mehr, der sie begleitet. Früher waren das der Arzt, der Lehrer oder der Pfarrer, die auch ein offenes Ohr für die seelischen Nöte hatten. Dass hier heute etwas fehlt, spüren wir sehr deutlich in den psychotherapeutischen Praxen.

Es besteht ein großer Bedarf an Orientierung, der in unserer Gesellschaft durch fast nichts mehr erfüllt wird. Krisen erleben Menschen unter anderem dann, wenn sie das Gefühl haben, Chancen und Möglichkeiten zu verpassen oder verpasst zu haben. Dies begünstigt z.B. Quarterlife-, Midlife- und späte Lebens-Krisen Wenn ich durch eine Tür gehe, fallen andere Türen zu. Und wer weiß, ob nicht die andere Tür die bessere gewesen wäre?! Sich eventuell falsch zu entscheiden oder entschieden zu haben, macht nervös und unzufrieden. Und diese Nervosität können wir ja auch überall beobachten. Es geht alles immer schneller, und viele versuchen, sich abzulenken von den Zweifeln, die aus dem Unterbewusstsein hochkommen. Diese Zweifel etwas Entscheidendes zu verpassen, können zu Stress und schließlich burnout führen.

Die Erschöpfung, die wir heute vielfach erleben, hat zwei Komponenten. Es gibt den Druck von außen, dieses Gefühl, in der Arbeitswelt aber auch in Beziehungen perfekt sein zu müssen, andernfalls riskiert man ausgetauscht zu werden. Dieser Druck war früher nicht so ausgeprägt. Und dann gibt es auch einen inneren Druck. Die meisten spüren deutlich, dass ihr Leben nicht mehr gemäß dem eigenen Rhythmus verläuft.

Vielen fehlt der Mut, sich auf sich zu besinnen und das zu leben, was für sie selbst stimmt. Die Meisten von uns richten sich weitaus mehr nach allem, was um uns herum geschieht als nach unseren eigenen inneren Impulsen. Allerdings muss man auch sagen: Viele Menschen spüren ihre eigenen Impulse gar nicht mehr. Entscheidend ist jedoch, dies wieder zu üben, um zu erkennen, wie unser eigener Weg aussehen könnte. !

Der Begriff des Loslassens ist mittlerweile etwas abgenutzt, weil er inflationär verwendet wird. Aber natürlich geht es darum, auf Angebote, Möglichkeiten und Chancen auch verzichten zu können, sich von vielen Verhaftungen bzw. Vorstellungen zu lösen, davon, dass man bestimmte Dinge unbedingt braucht, erlebt oder gemacht haben muss, um sich besser zu fühlen. Fast jeder wird schon einmal die Erfahrung gemacht haben, dass man sich nur für kurze Zeit besser fühlt, wenn man das begehrte Objekt endlich sein eigen nennt.

Was dabei hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, ist mehr Stille im Alltag zu suchen. Wieder aushalten zu lernen, dass man nicht ständig verfügbar ist und man sich nicht dauernd berieseln oder abgelenken lässt.

Dies kann man üben, indem man sich z.B. jeden Tag etwas Zeit nimmt, einfach nur zu sitzen und still zu sein. Oder zu gehen und still zu sein. Das fällt am Anfang schwer, denn wenn wir erst einmal in die Stille gehen, überfluten uns Bilder. Da sind auch alte Dinge dabei wie die Erwartungen der Eltern oder Ängste aus Kindertagen, die uns geprägt haben. Mit solchen Themen arbeitet man in der psychotherapeutischen Praxis. Aber wer damit allein ist, hält diese Bilder manchmal schlecht aus. Durch diese Bilder durchzugehen in der Meditation heißt ja immer: die Bilder vorbeiziehen zu lassen und nicht mit ihnen mitzufahren. Die Bilder zu betrachten wie Wolken, die weiterziehen. Man kann sie nicht unterdrücken. Es ist kein willentlicher Akt zu sagen: „Ich denke jetzt nichts“ oder „Ich sehe jetzt nichts“. Es ist eine Übung, die bedeutet: Ich sehe das, ich lasse es da sein und ich lasse es auch wieder weggehen. Es geht also um das Akzeptieren dessen, was im eigenen Leben ist und war.

Das Allerwichtigste, was wir für uns tun können, ist dem zuzustimmen und anzuerkennen, was im Moment ist. Angesichts des Optimierungswahns ist es nicht einfach, seine eigene Geschichte so anzunehmen wie sie ist und damit auch sich selbst anzunehmen, wie man geworden ist. Der schlimmste Richter sitzt in uns selbst. Streng wacht er darüber, wie wir sein sollten und sogar, was wir denken dürfen. Dabei sind auch ganz archaische „schlechte“ Gedanken normal. Es ist vollkommen normal, dass man sich wütend fühlt und Rachegedanken hegt, wenn man eine Ungerechtigkeit erfährt. Es ist segensreich, sich selbst sagen zu können: Ich darf so sein! Und zu erkennen, dass darin kein Werturteil liegt. Vorbehaltlos zu sich zu stehen und sich anzunehmen – mit den eigenen Schwächen, aber insbesondere auch mit den eigenen Stärken. Es geht nicht darum, die Schwächen zu tilgen und die Stärken optimieren. Das Gleichgewicht entsteht auch dadurch, dass alles seinen Platz haben darf. So kann man mit sich selbst nachsichtig und gnädig sein und muss nicht immer nach Optimierungen schielen.

Hildegard Ressel

Studium der Naturheilkunde, Medizin und Psychologie. Abschluss in klinischer Psychologie, Weiterbildung zur psychologischen Psychotherapeutin, praktiziert seit 1987 in eigener Praxis. Autorin von Buchtiteln wie „Was ich wirklich brauche“ und „Was ich wirklich will“

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